Über das Buch

Ist oben immer oben und unten immer unten oder ist unten oben und vice versa ?

Hoch hinaus zu wollen wurde und wird seit jeher als hehres Ziel gesehen, wer will schon in den Keller, unter die Erde? Andererseits verspricht das Munkeln im Dunkeln unverhohlen Spaß und die eine oder andere Überraschung im Guten wie im Bösen, und wer zu hoch steigt, fällt eben eventuell auch sehr tief.

Von Gewölben und Türmen in Halle schauen Autorinnen und Autoren in Bild und Text nicht nur auf diese offenkundigen Ungereimtheiten. Sie fabulieren, beschreiben, erinnern und berichten vom Leben in der Stadt gestern und heute, vielleicht auch morgen. Folgen Sie den Fährten und entdecken Sie das Bekannte im Un- bekannten, das Neue im Gewohnten. Weiterhin halten wir uns an das Hölderlin-Wort: Komm! ins Offene, Freund!

Siegfried von der Heide, T. O. Immisch

Stadt der 6 Türme

Wer erstmals das Zentrum von Halle zu Fuß vom Hauptbahnhof aus anstrebt, begegnet auf der Hälfte seines Weges hinunter in die Eimulde, die Halle einbettet, dem Leipziger Turm,…

… In Mutter Courage und ihre Kinder von Bertolt Brecht heißt es:

Die Bäuerin: Ist Licht in der Stadt?
Der Bauer: Nix. Da schlafens jetzt. Wenn die eindringen, stechen sie alles nieder.
Die Bäuerin: Der Wachtposten wirds rechtzeitig entdecken.
Der Bauer: Den Wachtposten im Turm oben aufm Hang müssen sie hingemacht haben, sonst hätt der ins Horn gestoßen.“ 

Die stumme Katrin aber weckt daraufhin mit Trommeln die schlafende Stadt Halle.

Text: Wilhelm Bartsch
Bild: Knut Müller

Wasser marsch!

Im Text sind zwei Gedichte von Marco Organo enthalten

Vor allem dort, wo ein Turm in seiner Stellung ein unmittelbar städtebauliches Gewicht erhält, ist künstlerische Verantwortung gefragt. 

Derartigen Ansprüchen werden die halleschen Wassertürme ohne Zweifel in vollem Umfang gerecht. Der in der rätselhaften Gestalt eines verwunschenen Märchenschlosses sich präsentierende Wasserturm Nord verleiht als Wahrzeichen seinem städtischen Umfeld ein unverwechselbares Gepräge…. In gleicher Weise nimmt der Wasserturm Süd eine integrative Funktion wahr. Er steht als sammelnde Mitte, als Blickfang auf dem Lutherplatz…

Text: Dieter Dolgner
Bild: Angela Dolgner

Porphyr, Pelikan und Hauser (Radioessay)

Sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüße Sie hier beim ost-deutschen Rundfunk zu Frontal – der Sendung mit den Absurditäten unseres Alltags. Bei uns zu Gast heute der – schon fast ... sagenumwobene Hauser. Gejagt vom Innenministerium, gefürchtet von der Bevölkerung, hat er unser Land in Atem gehalten – viele Wochen lang. Jetzt wird langsam klar – dieser ... Mensch ist mehr als das Monster, das wir in ihm sehen wollten. Die Presse spricht vom Vogelmenschen Hauser. Guten Tag, Herr ... Hauser. …

Herr Hauser, wie kommen Sie eigentlich nach Halle, hierher, wo diese ganze furchtbare Geschichte begann?

Text: Ralf Wendt
Bild: Gert Schütze

Das Hochwild und das Niederwild

Als Teenager war ich oft zu Besuch im obersten Stock eines Wohnblocks am Tulpenbrunnen in Halle-Neustadt. Dort wohnten übereinandergestapelt Menschen aus allen Schichten/Klassen/Milieus… Eine Art Arche Noah – von jeder Sorte Exemplare. Oben, unten – völlig egal. ..Diese – sicherlich anstrengende, aber ungemein informative - Durchmischung vermisse ich heute schmerzlich. 

…die halleschen Wohnviertel haben sich nach 1989 erschreckend schnell wieder auseinandergemendelt. Hier die Unteren, da die Oberen. Hier Brennpunkt, dort Wohlfühlviertel.

Text: Sebastian Gerstengarbe
Bild: Colette Dörrwand, René Schäffer, Craig Stennett

Von oben herab

Ja, er wohnt hier seit der Einweihung seines Blocks. Die Kinder sind aus dem Haus, er ist nun Witwer. Wegziehen möchte er nicht. Freundlich lokalpatriotische Menschen wie ihn kann man in Halle-Neustadt bei jeder Veranstaltung zur Stadtteilgeschichte treffen. Und natürlich vormittags mit dem Einkaufsbeutel unterwegs zum Supermarkt, der gern immer noch „Kaufhalle“ genannt wird. …

Ja, das ist Nostalgie, Neustadtnostalgie….Ein Lebensraum, den man sich mitgestaltend erobern kann. Man sieht hier Kinder im öffentlichen Raum spielen – ohne Mami oder Nanny. Wer das mal im Paulusviertel beobachtet, soll sich bei mir melden.

Text: Michael Suckow
Bild: Reiner Sioda

Türme der Moritzburg

Letzte Orte 

Mag sein, das Land fällt ...
Es bleibt die eine Stadt.

Mag sein, die Stadt fällt,
es bleibt die eine Burg. 

Mag sein, die Burg fällt,
es bleibt der eine Turm. 

Mag sein, der Turm fällt,
es bleibt ... die eine kleine Zeit.

Mag sein, es bleibt Gelegenheit zu türmen. 

Vor mehr als 500 Jahren waren Burgen schon kaum noch „feste Burgen“,…Vor mehr als 50 Jahren waren die Türme der Moritzburg lustige Orte. Letzte lustige Orte, wenn man so will. … Augenfällig und sinnfällig war, dass Lust und Gelächter sich seinerzeit ausgerechnet in Türme zurückziehen mochten.

Text: Detlef Färber
Bild: Lutz Winkler

Der kluge Mann baut tief 

Gewölbe waren und sind nicht nur baulich stabil, weil sie ihre eigene Last und die Last, die sie tragen – schließlich stehen ja die Gebäude noch oben drüber – seitwärts auf ihre Stützen verlagern; sie sind zudem, zeitgeistig aktuell, klimastabil und aus heutiger Sicht „schön“: Tonnengewölbe, Kreuzgratgewölbe, Sterngewölbe, Netzgewölbe, Kreuzrippengewölbe, Klostergewölbe, Muldengewöl- be, Spiegelgewölbe; der Wunsch nach Vielfalt wird, ästhetisch und massenkompatibel, gekonnt erfüllt. 

Den Satz „Was ist denn das für eine hässliche Bude?“ habe ich beim Besuch eines Gewölbes noch nie jemand sagen hören.

Text: Siegfried von der Heide
Bild: Jürgen Domes 

Der Verrat

I. Prolog – Eröffnung 

Kardinal Albrecht von Brandenburg, Hans von Schönitz, Ulrich von Hutten, Erasmus von Rotterdam 

An einem trüben Donnerstag im Jahre 1530 stehen die Herren vor einem kärglichen Hospital in Halle. Smalltalk und angestrengte Stimmung, bis Albrecht von einem euphorischen Gedanken eingeholt wird. 

Albrecht:
Jetzt aber mal Frührenaissance in Halle. Italienisches Flair. Residenzcharakter. Irgendwo ein schöner Garten. Für mich zum Verweilen oder wir machen eine Universität draus. Wäre doch auch nicht schlecht. Wissenschaft, Humanismus, bisschen polarisieren zwischen Katholiken und Protestanten. Zack!

Text: Nora Mona Bach
Bild: Marcus-Andreas Mohr

Überm Flutbett der Turm 

Über den alten Physikturm im Herzen der geträumten, alten, ehr- würdigen Stadt werden viele Geschichten erzählt. Keine einzige ist wahr. …Es heißt, durch die alten Säle in ihm laufen die Spuren und Linien von Händen, lange, seit der letzte Dozent, letzte Student sie verließ, durch den Staub, der dort in stillen Jahren aufwuchs, die wie die Eiszeiten kamen und gingen, von keinem bemerkt. 

Durch die Fenster im Keller des Turms, heißt es, erblickt man im Geäder von Spinnweb und gerissenem Glas die schönsten Wesen der Stadt, in der Höhe der Augen thronende Frauen mit Flügeln und Gazellengehörnen …

Text: André Schinkel
Bild: Uwe Jacobshagen 

Blick zu den Sternen 

1787/88 erhielt endlich auch die hallesche Universität ihr eigenes Planetarium für Forschungs- und Unterrichtszwecke. Als Standort wählte man – wegen der Störanfälligkeit nicht gerade glücklich – einen Platz im Botanischen Garten, in einer der am Rande der dicht bebauten mittelalterlichen Kernstadt gelegenen grünen Oasen.

Als Muster für die Gestalt der halleschen Sternwarte wählte C.G. Langhans d. Ä. (Architekt des Brandenburger Tores) in einer analogen Rezeptionshaltung (zur Antike) das am östlichen Zugang zum Römischen Markt in Athen stehende Horologium, den sogenannten Turm der acht Winde….

Text: Dieter Dolgner
Bild: Angela Dolgner 

Beton oder Backstein 

Das „alte“, das Schalenmüllersche Planetarium: Dieser kleine Bau von Herbert Müller, ist vielleicht eines der wenigen Beispiele, wo das Wesen der Baumoderne im Osten tatsächlich realisiert wurde….Nun ist das futuristische Planetarium also weg. – Nein, seine Behausung ist weg. Das Planetarium selbst ist nur woandershin gegangen (worden). Es wurde in eine Backsteinhülle gesteckt. Es ist das Gemäuer eines Gasometers, das von der 1891 in Betrieb genommenen Gasanstalt am Holzplatz übrig blieb. 

Wir wissen nicht, ob im kommenden Winter genug Gas zum Heizen da sein wird… der rostrote Backstein hat eine beruhigende Wirkung.

Text: Michael Suckow
Bild: Knut Mueller 

Achim, das Strichmännchen

Die Sirenen hatten die Stadt geweckt und 64 Kampfflugzeuge der Royal Air Force trieben die Menschen erstmals in diesen Bunker. Weitere Angriffe folgten bis zu dem am 16. April 1945 durch Graf Luckner abgewendeten Vernichtungsangriff auf Halle. Danach war Frieden in Halle und Ruhe im Bunker. …im Jahr 2001: ein Ausstellungs-projekt mit Arbeiten von 17 Studierenden der Photographin Eva Mahn….Für die Ausstellung musste der Bunker von Schutt befreit werden. Bei dieser Gelegenheit fand man Achim, das Strichmännchen, mit dem Ruß einer brennenden Kerze an die Wand gehaucht….

Text: Siegfried v.d.Heide
Bild: Eva Mahn

Kontakt  

Das Buch ist unter ISBN 978-3-96311-778-7 im Buchhandel erhältlich, unter anderem in der halleschen Buchhandlung Jacobi & Müller oder direkt beim mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale).

Mit freundlicher Unterstützung durch Depolt Immobilien, Wolfram Hey Stuckarbeiten, Dipl.med. Antje Lindner, VG Wort Neustart Kultur Stipendien und Crowdfunding sowie ganz wenig Geld von der Stadt Halle.

Herausgegeben von Siegfried von der Heide und T.O. Immisch


Triftstraße 12, 06114 Halle (Saale)

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